35. Agile Monday: Appreciative Inquiry Retrospektive

Ich habe noch nie etwas von gelangweilten NASA-Teams gehört. Technische Probleme einer Marslandung werden offensichtlich als positive Herausforderung angenommen.

Sind die Aufgaben weniger technisch, dann generiert das übliche Breittreten von Problemen allerdings tendenziell noch mehr problematische Effekte als Lösungen. Bei konventionell geführten Retrospektiven  bleibt dann von dem, was bisher gut lief, zu oft nur ein schmächtiges „Weiter so!“ übrig, ohne erkennbaren Effekt. Bessere Idee: statt des ermüdenden „Problemtalk“ baut man besser auf dem Erreichten auf und überlegt gemeinsam, wie man vom erreichten Stand x auf x+1 kommen könnte. Diese Sicht verbreitet sich immer mehr.

Der 35. Agile Monday im Coworking Space Nürnberg stand diesmal unter dem Motto „Lösungsorienterte Retrospektiven“.

Über die Einladung der Agile-Monday-Organisatoren Martin Heider, Sven Winkler und René Füger  habe ich mich sehr gefreut und am ersten schönen Frühlingsabend mit zwei Dutzend Teilnehmern eine lösungsorientierte Retrospektive nach Appreciative Inquiry durchgespielt (Materialien dazu gibt’s als Anhang unter diesem Posting). Die Retrospektive drehte sich praktischer Weise um die Zukunft des Agile Monday selbst.

Vorweg: ein toller Abend!

Vorbereitung

Henne und Ei lassen grüßen: alle Formate von Appreciative Inquiry (wie Summits, Positive Change Network, oder eben auch Retrospektiven) drehen sich um ein affirmatives Thema, also ein positives, das zu Diskussionen über die angestrebte Zukunft (ver) führt und das gemeinsame Lernen stimuliert.

Agile Teams wählen ihr Retrospektiventhema dazu normaler Weise selbst, es „hält“ dann für 2-3 Retrospektiven, bis das Team für’s nächste Mal ein anderes wählt. Weil das ad hoc natürlich so nicht machbar ist, denke ich mir eine Liste von 6 möglichen affirmativen Themen aus, um den Teilnehmern etwas Auswahl zu bieten. Martin Heider gibt hilfreiches Feedback, ich streiche die Liste auf folgende zusammen:

  • Aktive Agile Monday Online Community
  • Der Agile Monday verändert
  • Der Agile Monday hilft

Zu jedem Thema entwickle ich dann drei Interviewfragen – in einem Scrum-Team wäre das zum Beispiel die Aufgabe eines Scrum Masters. Alles zusammen packe ich auf ein Arbeitsblatt. Der Abend wird, wie bei einer traditionellen Retrospektive, etwa 2 Stunden konzentrierter Arbeit bedeuten. Um die Teilnehmer nicht mit einer zusätzlichen Theorievorlesung für’s Kommen zu strafen, stelle ich auch noch ein kurzes Infoblatt mit Grafiken und Ressourcen zu Appreciative Inquiry und Lösungsorientierung zusammen, das man sich anschließend zu hause durchsehen kann (Downloads  s.u.).

Meine Erfahrung als Coach: mit etwas Routine benötigt z.B. ein Scrum Master für die Vorbereitung einer lösungsorientierten Retrospektive ungefähr ebenso viel Kreativität und Zeit wie für eine konventionelle.

Intro

Appreciative Inquiry 4D cycle

Abends nehmen es Teilnehmer wie Patrick mit Fassung, als ich eine Dauer von 2 Stunden prognostiziere. Um gleich einsteigen zu können, umreiße ich nur kurz die 4 Phasen aller Appreciative-Inquiry-Formate, den 4D-Cycle:

  1. Discover
    Finde den positiven Kern. Erinnere Dich, wann und wie schon mal etwas funktioniert hat, worauf sich aufbauen ließe.
  2. Dream
    Träume! (wie Martin Luther King – dazu später mehr)
  3. Design
    Dein Umfeld fällt nicht vom Himmel, es ist „designt“. Welche Stellschrauben gibt es hier bei uns? Welche „Stakeholder“?
  4. Deliver
    Nachdem Du Träume und Designmöglichkeiten dazu entwickelt hast: was wäre eine kleine Innovation, die Du mit ein paar Leuten anpacken willst? Wie sieht der Zeitrahmen aus?

Der Zyklus bietet eine schöne Alternative zu den klassischen Phasen einer Retrospektive (Bühne vorbereiten; Daten sammeln; Erkenntnisse gewinnen; entscheiden, was getan wird; runder Abschluss).

Ich bitte die Teilnehmer, sich selbst in Vierergruppen zu organisieren, die jeweils am selben affirmativen Thema interessiert sind.

1. Discover

In jeder Vierergruppe finden sich jeweils zwei Interviewpartner zu einem Paar zusammen. Jeder interviewt den anderen und verwendet dazu die drei Fragen auf dem Arbeitsblatt. Ich bitte die Teilnehmer, die Fragen wirklich wörtlich genau wie aufgeschrieben zu stellen – und in sich hineinzuhorchen, falls sie und warum sie die Fragen selber anders gestellt hätten.

2 Minuten für jede der drei Fragen, nach 6 Minuten also Seitenwechsel. Die nächsten 12 Minuten glaube ich, direkt neben einem Bienenstock zu stehen! Ob die Teilnehmer tagsüber, im Büro, mit den Kolleginnen und Kollegen ebenso produktiv und anregend miteinander über ihre Arbeit reden? Ich hoffe es!

Die drei Interviewfragen repräsentieren drei Fragetypen:

  1. „backward“ – frage nach wahren, konkreten Erfolgsgeschichten (nicht nach Theorien oder einstudierten Statements);
  2. „inward“ – frage, was jemand aus seiner Geschichte für sich persönlich, für das Teamwork oder gar für’s Leben gefolgert hat;
  3. „forward“ – frage, an welchen Dingen jemand eine bessere Zukunft überhaupt erkennen würde, wenn sie ohne sein Wissen, wie ein Wunder, über Nacht einträte.

Was aus den Antworten des Interviewpartners hat besonders elektrisiert, bei den „backward“ und „inward“-Fragen? Ich bitte die Teilnehmer, ihrer Vierergruppe für jeweils 3 Minuten dazu etwas zu erzählen. Jeder hört seine eigene Geschichte, aus fremdem Mund. Der Bienenstock summt wieder, für 12 Minuten.

Appreciative Inquiry ermutigt dazu, solche Geschichten, kleine Erinnerungsstücke und anderes dazu als „Positive Core Map“ zusammenzustellen: als Collagen, Interviewfilme oder in anderer Form. Ich habe eine Doku-Box mitgebracht und bitte die Teilnehmer, am Ende Ihre Interviewnotizen rein- statt wegzuwerfen. Ein paar Tage später werde ich sie scannen und für die Teilnehmer als PDF-Datei zusammenstellen. Außerdem fotografieren Martin und ich natürlich mit.

2. Dream

Dream-Kriterien

Wie träumt Martin Luther King?

Ich habe einen Traum: dass meine vier kleinen Kinder in einer Nation leben, in der man sie nicht nach ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem Charakter beurteilt.

Das ist ein vollständiger Satz, kein Stichwortgestammel. Es ist wünschenswertfür alle seine Zuhörer, nicht nur für ihn. Es ist formuliert, als wär’s schon Realität. Und es bringt eine echte Herausforderung für den Status Quo auf den Punkt.

Ich bitte die Teilnehmer, ihrer Vierergruppe für jeweils 3 Minuten zu erzählen, was ihr Interviewpartner auf die „Forward“-Frage geantwortet hat: an welchen Dingen würde man überhaupt erkennen, dass über Nacht ein Wunder geschehen ist? Jeder hört seine eigene Antwort, aus fremdem Mund. Der Bienenstock summt wieder, für 12 Minuten.

Die Vierergruppen bekommen dann 5 Minuten, um Ihren Traum für den Agile Monday zu formulieren, der den Kriterien auf dem abgebildeten Flipchart genügt.

Anschließend werden alle Träume zu einer Galerie aufgehängt, und jeder hat etwas Zeit, alle Träume kennen zu lernen.

3. Design

Design Possibility Map

Wir lösen die Vierergruppen auf – jeder arbeitet mit und an dem Traum weiter, der ihn am meisten anspricht. Die Flipcharts mit den Träumen werden zu „Design Possibility Maps“:

  • im Zentrum der Traum;
  • im ersten Kreis darum genug Platz, um per Brainstorming auf kleinen Klebezetteln mögliche Designelemente zu sammeln: welche Skills, Orte, Strukturen, Gelder, Absprachen, … können genutzt / eingerichtet / definiert / gestaltet werden, um dem Traum näher zu kommen?
  • im zweiten Kreis darum genug Platz für ein weiteres Brainstorming: wer sind die Stakeholder des Traums? Wer muss mit ins Boot? Wen wird unser Traum etwas angehen (und dabei hoffentlich auch anstecken)?

Nach 10 Minuten hängen 5 umfangreiche Design Possibility Maps als Galerie an den Wänden.

Jeder bekommt 10 grüne Klebepunkte und 10 weitere Minuten, um auf einem Rundgang Feedback zu geben: welche Designelemente hätten Deiner Meinung nach den größten Effekt? Hier zählt nur die Rückmeldung – es wird nichts dazu entschieden, was später getan wird. Oder ob überhaupt.

4. Deliver

Innovationenparade

Von Geschichten über Träume sind die Teilnehmer jetzt also bei konkreten Designmöglichkeiten für den Agile Monday angekommen.

Zeit, dass etwas daraus wird! Welche kleine Innovation fällt Dir zu Deinem Lieblingstraum ein? Wechsle ruhig zu einem anderen Traum, wenn Du beim Rundgang einen für Dich attraktiveren gefunden hast!

Ich verteile Zettel an die Teilnehmer und bitte sie, je nach Lust allein oder mit anderen zusammen eine kleine Innovation zu formulieren:

  • was ist die Kernidee?
  • welchem Zeitrahmen stellst Du Dir dafür vor?

Nach 5 Minuten stehen 11 Leute Schlange, um ihre Innovationsidee vorzustellen und Mitstreiter zu suchen.

Jeder Zettel hat am unteren Ende eine noch leere Liste für die Mitstreiter, die sich in den kommenden Minuten mit Namen und Emailadressen füllt. Überall im Raum stehen kleine Grüppchen herum und diskutieren schon engagiert (und LAUT!) über erste Schritte.

Schlussrunde

Das Fazit der Teilnehmer fällt sehr positiv aus – manche freuen sich besonders darüber, dass man Appreciative Inquiry ganz offensichtlich auch noch mit zwei Dutzend Leuten sehr effizient nutzen kann (für den einzelnen Facilitator ist bei 30-40 Leuten Schluss; die Methode skaliert auf bis zu 1.000 Teilnehmer – da sind dann Vorbereitungsgruppen und ein Team von Facilitators gefragt).

Ein Teilnehmer befürchtet, dass seine Kollegen 2 Stunden auch schon bei herkömmlichen Retrospektiven als viel zu lang empfinden. Meine Antwort: das einzig relevante Erfolgskriterium für eine Retrospektive ist, ob eine Gruppe dabei Ihre Fähigkeit zur Selbstorganisation (zum Selbstmanagement?) beweist: erarbeitet sie relevante Verbesserungsaktivitäten? Und vor allem: wird aus denen zeitnah auch etwas? Falls dazu 10 Minuten Retrospektive genügen – macht das ruhig so. Falls die Anwesenden aber nur nach 10 Minuten einnicken und sich aus dem Raum ganz weit weg wünschen, deutet das vermutlich auf etwas Anderes hin als auf ein Problem mit der Dauer.

Probleme fallen übrigens keinem Tabu oder Schweigegelübde zum Opfer. Wie Insoo Kim Berg, eine Begründerin der Solution-Focused Brief Therapy (SFBT) es formuliert hat:

Just because I am solution focused does not mean that I am problem phobic.

Probleme zu besprechen ist kein Problem. Aber wenn Du Probleme als Endstation betrachtest, dann hältst Du den Stein und Deinen daran verstauchten Zeh für wichtiger als das Ziel, zu dem Du auf dem Weg bist. Reinen Problem-Talk halte ich weder für professionell noch für zielführend. Er füllt nur bequem die Agenda, ohne dass man auch nur eine Sekunde über den Zweck hinter der Agenda nachdenken müsste.

Frag Dich also immer: wo will ich denn eigentlich hin?

Ein toller Abend – danke an alle Teilnehmer, die Organisatoren Martin, Sven und René und den Coworking Space Nürnberg für den Denk-Raum!

Materialien zum Download: Dossier Appreciative Inquiry und Solutions Focus, AI Retrospektive Agile Monday